Von Dr. Jörn Quitzau, Leiter Wirtschaftstrends beim Bankhaus Berenberg.

Während sich viele Menschen fragen, wie die hohen Staatsschulden jemals zurückgezahlt werden können, diskutieren einige Politiker und Ökonomen darüber, wie die Schuldenbremse gelockert oder umschifft werden kann. Wie kann das sein?

Die Staatsschulden sind in Deutschland über viele Jahrzehnte gewachsen. Gemessen an der Wirtschaftsleistung stiegen die öffentlichen Schulden von weniger als 20 % des Bruttoinlandsproduktes (BIP) im Jahr 1970 auf über 80 % im Jahr 2010. Der Anstieg verlief nicht kontinuierlich, sondern in mehreren kräftigen Schüben. Die Haupttreiber waren der Ausbau des Sozialstaates in den siebziger Jahren, die Kosten der Wiedervereinigung in den Neunzigern und schließlich die globale Finanzkrise.

Als die Finanzkrise zu einer internationalen Staatsschuldenkrise ausuferte und auch den deutschen Schuldenstand auf ein neues Rekordhoch katapultierte, führte Deutschland die sogenannte Schuldenbremse ein. Ziel der Schuldenbremse war und ist es, den Verschuldungsspielraum des Staates stark einzuschränken und damit die Tragfähigkeit der öffentlichen Haushalte sicherzustellen. Die Regeln sind jedoch so flexibel konzipiert, dass der Staat auf Konjunkturschwankungen reagieren kann. In konjunkturellen Abschwüngen darf er Kredite aufnehmen, um staatliche Ausgabenprogramme zu finanzieren. Im nächsten Aufschwung muss der Staat dafür Überschüsse erzielen, sodass der öffentliche Haushalt über einen Konjunkturzyklus hinweg nahezu ausgeglichen ist.

Die Schuldenbremse hat dazu beigetragen, dass der Schuldenstand zwischen 2010 und 2020, also bis zum Ausbruch der Corona-Krise, von 80 % des BIP wieder auf 60 % gesunken ist. Der Erfolg spricht also für sich. Deutschland steht finanziell auch dank der Schuldenbremse im internationalen Vergleich sehr gut da. Deutsche Staatsanleihen gelten deshalb als extrem sicher. Anleger brauchen keine Angst zu haben, dass der deutsche Staat seine Schulden nicht zurückzahlt. Deshalb werden Bundesanleihen von Investoren allzu gern gekauft. Weil deutsche Staatsanleihen so beliebt sind, muss der Finanzminister für neue Schulden aktuell keine Zinsen zahlen. Die Schuldenbremse trägt also dazu bei, dass die Zinslasten deutlich gesunken sind. Der Staat hat dadurch erheblichen finanziellen Spielraum gewonnen. Statt Zinsen zu zahlen, kann er das Geld für andere Zwecke ausgeben. Während private Anleger beklagen, dass sie auf ihr Erspartes keinen Zins mehr erhalten und nicht mehr vom Zinseszins profitieren können, freut sich der Staat, dass er nicht vom Zinseszins erdrosselt wird.

Angesichts dieser überaus positiven Konstellation ist es erstaunlich, dass in Deutschland aktuell über die Sinnhaftigkeit der Schuldenbremse diskutiert wird. Doch sowohl aus dem politischen als auch aus dem wissenschaftlichen Bereich gibt es Stimmen, die in der Schuldenbremse eine unangemessene finanzpolitische Fessel sehen. Was sind die Gründe?

Eine Schuldenbremse ist Politikern tendenziell ein Dorn im Auge. Sie verhindert, dass die Politiker dauerhaft mehr Geld ausgeben können, als der Staat durch Steuern, Abgaben und Beiträge einnimmt. Mit anderen Worten: Der Staat muss seine Ausgaben an den regulären Einnahmen orientieren. Der Kreditweg ist versperrt. Politisch ist es aber immer reizvoll, mehr Geld ausgeben zu können, um damit Wählergruppen zu beglücken. Die Schuldenbremse verhindert, dass diese Wohltaten kreditfinanziert und die Lasten damit auf die nachfolgenden Generationen verschoben werden.

In der aktuellen Diskussion wird vielfach der Fokus auf Zukunftsinvestitionen wie den ökologischen und digitalen Umbau gelenkt, die durch eine höhere Kreditaufnahme ermöglicht werden sollen. Damit wird eine Unterscheidung in gute und in schlechte Schulden unternommen. Gute Schulden sind diejenigen, mit denen Zukunftsinvestitionen finanziert werden. Mit schlechten Schulden werden hingegen konsumtive Ausgaben, mit denen keine dauerhaften Werte geschaffen werden, finanziert – dazu zählen zum Beispiel Sozialausgaben und Subventionen. Grundsätzlich ist gegen eine solche Unterteilung nichts einzuwenden. Mit schuldenfinanzierten Investitionen können die finanziellen Lasten zeitlich gestreckt und auch die künftigen Nutzer (zum Beispiel der digitalen Infrastruktur) an der Finanzierung beteiligt werden.

Allerdings kann eine solche Unterscheidung auch für politische Augenwischerei genutzt werden. Denn durch das Hervorheben der Investitionsausgaben wird das Augenmerk bewusst und trickreich weg gelenkt von den konsumtiven Staatsausgaben. Über sie wird plötzlich nicht mehr diskutiert. Damit wird die politische Diskussion umschifft, welche Prioritäten der Staat bei seinen Ausgaben setzen sollte. Es wird einfach alles finanziert.

Auf diese Weise ist der Schuldenberg in Deutschland über Jahrzehnte gewachsen. Wären mit den Schulden nur Zukunftsinvestitionen finanziert und diese nach und nach abbezahlt worden, dann wäre der Schuldenstand wieder gesunken und nicht immer weiter gestiegen. Zudem lauern in den Sozialversicherungen verdeckte Schulden. Sie werden in einigen Jahren zu echten Schulden, wenn die geburtenstarken Jahrgänge in den Ruhestand gehen und von Beitragszahlern zu Leistungsempfängern werden. Die „guten“ Schulden in den Mittelpunkt der Diskussion zu stellen bedeutet, die Schulden weiter erhöhen zu wollen. Das ist kontraproduktiv. Die Alternative wäre, die konsumtiven Staatsausgaben zu kürzen, um damit den Raum für Zukunftsinvestitionen zu schaffen – ganz ohne Schulden.

Natürlich kann man darüber diskutieren, ob es ökonomisch klug ist, auf weitere Schulden zu verzichten, wo der deutsche Staat derzeit mit Schulden sogar Geld verdienen kann (die Staatsanleihen werden derzeit negativ verzinst). Aber die Zinsen werden auch wieder steigen und die Anschlussfinanzierungen werden dann irgendwann doch Geld kosten. Zudem ist eine Schuldenbremse nicht für den Augenblick gemacht. Sie soll verlässlich für dauerhaft solide Staatsfinanzen sorgen. Diese Verlässlichkeit hat mit dazu beigetragen, dass Deutschland derzeit keine Zinsen zahlen muss und dadurch viel Geld für andere Zwecke ausgeben kann. Deshalb wäre es fahrlässig, die Regeln der Schuldenbremse zu verwässern.

 

Weiterführende Informationen zur Schuldenbremse finden Sie im Podcast: Schuldenbremse – Solide Finanzpolitik braucht glaubwürdige Regeln

Oder lesen Sie den ausführlichen Beitrag über den Sinn von Fiskalregeln: Finanzpolitik auf Abwegen