Nach einem Jahrzehnt weitgehend stabiler Verbraucherpreise erleben wir nun einen regelrechten Inflationsschock. Ist die Teuerung allein auf die hohen Energie- und Lebensmittelpreise zurückzuführen oder was ist schiefgelaufen?

Stefan Schäfer: Da kommt Einiges zusammen, das nicht leicht auseinanderzuhalten ist. Schon im Zuge der Pandemie deutete sich an, dass höhere Inflationsraten vor der Tür stehen könnten, und zwar aus drei Gründen: Erstens kam es zu Knappheiten auf der Angebotsseite (Ausfall von Personal wegen Krankheit oder Quarantäne, Störung von internationalen Lieferketten etc.); zweitens baute sich Nachfragedruck bei den Konsumenten auf, die zwar großzügige Hilfen erhalten hatten, denen aber während der Lockdowns die Möglichkeit und ggf. angesichts der Unsicherheit auch der Wille fehlte, ihr Geld auszugeben; und drittens ereignete sich dies alles in einem expansiven monetären Umfeld, denn die Geldmenge M3 hatte schon vor der Pandemie spürbar zu steigen begonnen.

Der Ukraine-Krieg mit seinen Konsequenzen für die Energie- und Lebensmittelpreise war dann der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat.

Die EZB hat die Entwicklung bis Ende 2021/Anfang 2022 zunächst ignoriert und die schon 2021 steigenden Inflationsraten lange als „temporär“ bezeichnet. Entsprechend spät und halbherzig leitete sie die geldpolitische Wende ein. Jetzt müssen die Notenbanker in Sachen Inflationsbekämpfung schnell Glaubwürdigkeit zurückgewinnen, damit die Inflationserwartungen nicht aus dem Ruder laufen.

 

Deutschland setzt traditionell auf klar geregelte Zuständigkeiten und auf regelgebundene Finanz- und Geldpolitik. Europa hingegen setzt auf einen flexiblen Umgang mit Regeln. Wie wichtig sind glaubwürdige Regeln für stabiles Geld?

 Stefan Schäfer: Sehr wichtig! Wir sind hier im sensiblen Bereich des Zusammenspiels von Fiskal- und Geldpolitik. Die Zentralbank kann sich nur dann auf die Erhaltung (bzw. aktuell: Rückgewinnung) der Preisniveaustabilität konzentrieren, wenn es nicht zu einer „fiskalischen Dominanz“ kommt. Davon spricht man, wenn die Geldpolitiker bei ihren Entscheidungen Rücksicht auf die prekäre Haushaltssituation des Staates bzw. (in der Eurozone) der Staaten nehmen müssen. Inflationsbekämpfung erfordert also finanzielle Disziplin. Diese finanzielle Disziplin kann aber gerade in der Eurozone nur mit strikten Regeln herbeigeführt werden. Denn ohne strikte Regeln ist der Anreiz für die nationalen Regierungen groß, als Trittbrettfahrer zu agieren, also die Defizit- und Schuldenreduktion nicht zu ernst zu nehmen in der Hoffnung, bei Schwierigkeiten von den anderen Euroländern bzw. der EZB Unterstützung zu erhalten.

Es ist zu befürchten, dass die EZB längst in der Falle der fiskalischen Dominanz steckt. Seit dem OMT-Programm des Jahres 2012 verstärkt sich der Eindruck, dass die Zinsen, die die nationalen Finanzminister auf die Staatsanleihen bezahlen müssen, wenigstens eine Nebenbedingung des geldpolitischen Agierens in der Eurozone sind. Das jüngste Indiz dafür ist das „Transmission Protection Instrument“. Es hat explizit zum Ziel, dass die Renditen der Staatsanleihen nicht zu weit auseinanderlaufen. Andernfalls würde die Transmission der geldpolitischen Impulse in der Eurozone nicht richtig funktionieren, meint die EZB. Böse Zungen dechiffrieren TPI allerdings als „to protect Italy“ und werfen Lagarde & Co. vor, insbesondere dem italienischen Finanzminister die Arbeit erleichtern zu wollen. Ob diese Unterstellung gerechtfertigt ist oder nicht: Die Diskussion zeigt, wie stark die Glaubwürdigkeit der EZB als unparteiische Inflationsbekämpferin angekratzt ist. Und das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass Regeln in der Eurozone eine immer geringere Rolle spielen.

 

Die regelgebundene Wirtschaftspolitik gerät offenbar immer mehr aufs Abstellgleis. Die Glaubwürdigkeit der Wirtschaftspolitik hat insgesamt gelitten. In akuten Krisen werden bestehende Regeln, die den politischen Akteuren als Leitlinien dienen sollen, oft über Bord geworfen, um stattdessen ganz pragmatisch mit den akuten Notlagen umzugehen. Oft mussten die Zentralbanken mit Geld aushelfen, weil die Politik für ihre Vorhaben von privaten Kreditgebern kein Geld zu vertretbaren Zinsen erhalten hätte. In den vergangenen Jahren war dieser „Pragmatismus“ oft von Erfolg gekrönt. Wie stehen Sie zu einem solchen Pragmatismus?

Stefan Schäfer: Die in der Frage angesprochenen Erfolge sind nur Scheinerfolge, man könnte auch sagen Pyrrhussiege. Seit dem OMT-Programm hat der damalige EZB-Präsident Draghi seine gesamte Amtszeit hindurch betont, dass alle Maßnahmen der EZB (auch das Staatsanleihekaufprogramm) den nationalen Regierungen nur Zeit kaufen könnten. Es sei Aufgabe der demokratisch gewählten Politiker, ihre nationalen Volkswirtschaften strukturpolitisch auf Kurs zu bringen und die Haushalte zu konsolidieren. Das ist allenfalls ansatzweise geschehen – nicht zuletzt deshalb, weil die Regierungen sich darauf verlassen konnten, dass die EZB im Notfall als Krisenfeuerwehr zur Hilfe eilen würde. So jüngst wieder zu beobachten, als die EZB das TPI (siehe oben) beschlossen hat. Der „Pragmatismus“ hat also das Problem verschärft, statt zu seiner Lösung beizutragen. Je „pragmatischer“ die EZB, desto nachlässiger können die Mitgliedstaaten in der Struktur- und Finanzpolitik sein. Und je nachlässiger die Mitgliedstaaten, desto „pragmatischer“ muss wiederum die EZB agieren. Es ist ein Teufelskreis.

 

 

Der Autor: Prof. Dr. Stefan Schäfer ist seit 2012 Professor für Volkswirtschaftslehre an der Wiesbaden Business School der Hochschule Rhein-Main in Wiesbaden. Nach Banklehre und Volkswirtschaftsstudium arbeitete er in der volkswirtschaftlichen Abteilung der DZ Bank, bevor er 2002 als externer Doktorand an das Institut für Öffentliche Finanzen der Justus-Liebig-Universität Gießen ging, um zu promovieren (Dissertation: „Arbeitsmarktpolitik im deutschen Föderalismus“). Von 2002 bis 2005 war er Promotionsstipendiat der Stiftung der deutschen Wirtschaft. 2006 wechselte er zu DB Research, dem ökonomischen Think Tank der Deutschen Bank, und von dort 2009 an die Hochschule der Deutschen Bundesbank. Bevorzugte Forschungsgebiete: Geschichte, Gegenwart und Zukunft der Eurozone sowie Digitalisierung des Geldes (Bitcoin, Digitaler Euro etc.).