Der russische Angriff auf die Ukraine stellt die deutsche Energieversorgung radikal auf den Prüfstand. Angesichts eines möglichen Energie-Embargos oder eines Lieferstopps von russischer Seite sind Fakten zur deutschen Energieversorgung unerlässlich. Eric Heymann beleuchtet in diesem Beitrag und in der unten verlinkten Studie die wichtigsten Zahlen und Zusammenhänge. Eric Heymann ist Senior-Economist bei Deutsche Bank Research. Seine Themenschwerpunkte sind Verkehr, Energie und die Klimapolitik.

Trotz des langjährigen Ausbaus der erneuerbaren Energien ist Deutschland – wie die meisten anderen Industrieländer der Welt – immer noch auf fossile Energieträger angewiesen. Deutschland importiert fast 70% seiner Energieressourcen, wobei Russland derzeit der größte Lieferant von fossilen Energien ist. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine hat zu einem historischen Wendepunkt in der deutschen Energieversorgung geführt. Deutschland ist bestrebt, seine Abhängigkeit von Energieeinfuhren aus Russland so schnell wie möglich zu verringern. Die jahrzehntelange energiepolitische Verbindung zwischen Deutschland und Russland, die auch in den heißesten Zeiten des Kalten Krieges Bestand hatte, soll in den kommenden Jahren gelockert werden. Eine Renaissance dieser Energiebeziehungen ist unter dem derzeitigen politischen Regime in Russland kaum vorstellbar.

Deutschland plant einen massiven Ausbau der erneuerbaren Energien, wird aber auch in LNG-Infrastrukturen zur Diversifizierung der Gasversorgung, neue Gaskraftwerke, Stromnetze, Energieeffizienz von Gebäuden, Industrieprozessen und Mobilitätsdienstleistungen, kohlenstoffarme Heiztechnologien wie elektrische Wärmepumpen, Ladeinfrastruktur für Elektrofahrzeuge, Stromspeichertechnologien und Infrastrukturen zur Herstellung, zum Transport und zur Nutzung von (grünem) Wasserstoff in energieintensiven Industrien investieren. All diesen Zielen sind viele Grenzen gesetzt. Dazu zählen Kapazitäts- und Fachkräftemangel im Handwerk, im Baugewerbe und bei den Herstellern von Investitionsgütern, begrenzte finanzielle Mittel auf der Ebene der Verbraucher, der Unternehmen und des Staates, der Zeitaufwand für Planungs- und Genehmigungsverfahren oder lokale Widerstände gegen Windparks, neue Kraftwerke und/oder den Netzausbau.

Das kurzfristige Risiko, von den russischen Gas- und Öllieferungen abgeschnitten zu werden, ist im (industriellen) Wärmemarkt ausgeprägter und weniger schwerwiegend im Stromsektor. Während es sehr wahrscheinlich ist, dass die Gasversorgung bis Herbst 2022 gesichert ist, sind Engpässe für den Winter 2022/23 nicht auszuschließen. Die großen (politischen) Aufgaben auf kurze Sicht sind die Erhöhung der LNG-Importe auf europäischer Ebene, das Auffüllen der Gasspeicherkapazitäten über die Sommermonate und die Sicherung der Steinkohleversorgung. Wenn es im nächsten Winter zu physischen Engpässen bei Gas kommen sollte, könnten nachfrageseitige Maßnahmen ins Spiel kommen. Dazu gehört die planmäßige und geordnete Abschaltung von Industrieanlagen mit hohem Gasverbrauch. Der Verbrauch von Erdgas für Heizzwecke in privaten Haushalten würde gegenüber industriellen Anwendungen bevorzugt behandelt werden. Ein schnellerer Ausbau der erneuerbaren Energien ist eine Konsequenz aus der aktuellen Energiekrise, aber keine kurzfristige Lösung angesichts der begrenzten Möglichkeiten auf der Angebotsseite.

Ausblick: Erdgas soll die Zeit überbrücken, bis die erneuerbaren Energien die Hauptlast der deutschen Energieversorgung tragen können. Diese Brücke könnte länger sein, als viele Beobachter derzeit erwarten. Das gilt für den Wärmemarkt, für industrielle Prozesse und für den Stromsektor. Es wird Jahrzehnte dauern, bis in all diesen Bereichen erneuerbare Energien und synthetische Kraftstoffe auf Basis erneuerbarer Energien die Energieversorgung vollständig übernommen haben. Wenn Deutschland die Gasimporte aus Russland reduzieren will, ist der Aufbau einer leistungsfähigen LNG-Infrastruktur gemeinsam mit europäischen Partnern und zuverlässigen globalen Lieferanten eine wichtige Aufgabe, die politisch unterstützt werden muss. Idealerweise wird diese Infrastruktur so ausgelegt, dass sie künftig auch für Wasserstoff genutzt werden kann.

Die aktuelle Krise zeigt, dass eine ausreichende Energieversorgung nicht als selbstverständlich angesehen werden sollte. Eine langanhaltende Ära physischer Energieknappheit wäre sowohl wirtschaftlich als auch sozialpolitisch fatal. Die LNG-Infrastruktur ist Teil der Energiewende, ersetzt aber nicht den Ausbau der erneuerbaren Energien, den technologischen Fortschritt bei Energieeffizienz, Speichertechnologien, kohlenstoffarmen Mobilitätssystemen und anderen Handlungsfeldern. Der staatliche Einfluss im Energiesektor wird wahrscheinlich ebenso zunehmen wie die öffentliche Unterstützung für den geplanten Übergang. Da die wetterabhängigen erneuerbaren Energien nicht in der Lage sein werden, die Energieversorgung einer wachsenden Weltbevölkerung (+80 Mio. pro Jahr) zu sichern, sind mehr F&E-Ausgaben für kohlenstoffarme Technologien, aber auch für die Anpassung an den Klimawandel notwendig.

Weiterführende Studie mit zahlreichen Graphiken/Zahlen: „Deutsche Energieversorgung an einem historischen Wendepunkt“ (8 Seiten)