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Zeitgeist und Lobbyismus

Politische Entscheidungen werden bekanntlich nicht nur auf Basis von Sachargumenten getroffen. Um (wieder) gewählt zu werden, orientieren sich Politiker auch an gesellschaftlichen Stimmungen. Interessengruppen können durch geschicktes Vorgehen die Politik in ihrem Sinne beeinflussen. Im wirtschaftlichen Kontext spricht man von Lobbyismus. Dass Unternehmen und Wirtschaftsverbände versuchen, in der Politik Gehör zu finden und politische Entscheidungen in ihrem Sinne zu beeinflussen, ist allseits bekannt. Doch auch andere Gruppen sind in der Lage, Gesellschaft und Politik im Sinne ihrer eigenen Anliegen zu steuern oder gar zu manipulieren. Dies gelingt im Zeitalter von Social Media besonders gut, weil sich Kampagnen mit geringen finanziellen Mitteln orchestrieren lassen. Wer es schafft, den Zeitgeist in seinem Sinne zu färben, gewinnt großen Einfluss auf die Politik. Auch Kleingruppen können dadurch für ihre Themen große Aufmerksamkeit bekommen.

Das Wort Zeitgeist steht für das Lebensgefühl oder die vorherrschende Denkweise einer Epoche. Für Meinungen und Haltungen, die dem aktuellen Zeitgeist entsprechen, ist in privaten oder öffentlichen Diskussionen kaum Widerspruch zu erwarten. Wer hingegen vom Zeitgeist abweichende Meinungen und Haltungen vertritt, muss damit rechnen, sie sorgfältig begründen zu müssen. Es entsteht Rechtfertigungszwang – und somit ist es bequemer, sich dem Zeitgeist unterzuordnen und sich gängigen Erzählungen („Narrativen“) anzuschließen.

Gesellschaftliche Debatten sind dadurch oft undifferenziert. Im schlimmsten Fall ersticken Debatten schon im Ansatz, wenn kaum jemand Lust hat, sich gegen den herrschenden Zeitgeist aufzulehnen. Meinungen und Narrative verselbständigen sich und halten unangemessen lange. Bis die öffentliche Meinung umschlägt und sich neue Narrative durchsetzen, kann sehr viel Zeit vergehen.

Lobbyismus ist nicht per se schlecht, weil Lobbyisten bzw. Kleingruppen ihr Expertenwissen und ihre Sichtweisen in den öffentlichen Diskurs einbringen. Problematisch ist es aber, wenn Lobbygruppen so viel Einfluss bekommen, dass die öffentliche Debatte einseitig wird. Aktuell krankt das öffentliche Klima daran, dass gut organisierte Kleingruppen insbesondere im Internet sehr aggressiv auftreten und versuchen, ihre Anliegen rigoros durchzusetzen. Es findet kein ausgewogener, differenzierter Diskurs mehr statt, weil sich ein großer Teil der Gesellschaft aus den Verbalgefechten heraushält. Dadurch entsteht ein Zerrbild der öffentlichen Meinung und die Politik orientiert sich gegebenenfalls an einer vermeintlichen Mehrheitsmeinung, die es in der Realität gar nicht gibt.

Zurück zum Zeitgeist: Mit Blick auf Wirtschaft und Gesellschaft schlägt er mal ins Liberale und mal ins Kollektive. Derzeit erleben wir offenkundig eine gründliche Neuausrichtung. Wirtschaftlich ist der Liberalismus bereits seit der globalen Finanzkrise unter Druck. Die Übertreibungen im Finanzsektor, die 2008/09 massive Verwerfungen im Finanzsystem verursachten und anschließend eine schwere globale Rezession auslöste, haben ein schlechtes Bild auf unregulierte (bzw. schlecht regulierte) Märkte geworfen. Seitdem werden liberale wirtschaftspolitische Ansätze misstrauisch beäugt. In den letzten Jahren hat sich das Misstrauen noch verstärkt – auch durch Vertreter der jüngeren Generationen, die vom Wirtschaftsmagazin „The Economist“ als „Millenium-Sozialisten“ bezeichnet wurden und die meinungsstark und aktivistisch in sozialen Netzwerken unterwegs sind und.

Gesellschaftspolitisch dreht der Zeitgeist ebenfalls auf Kollektivismus. War noch vor wenigen Jahren die unbedingte Betonung von Individualität en vogue, wird aktuell wieder die Bedeutung der Gemeinschaft in den Vordergrund gerückt. Dass hierfür nicht primär rationales Abwägen verantwortlich ist, sondern eher eine opportunistische Orientierung am jeweiligen Zeitgeist, zeigt sich unter anderem in der Werbung: Einige Unternehmen, deren wichtigste Botschaft noch vor wenigen Jahren war, dass Individualität und Einzigartigkeit über allem stehen, Kompromissbereitschaft „von gestern“ sei und Dienstleistungen selbstverständlich maßgeschneidert und personalisiert sein müssten, setzen sich heute mit ähnlicher Inbrunst für die Bedeutung von Gemeinschaft und Kollektiv ein.

Der Wind dreht also einmal mehr gegen Markt und Freiheit. Und das Reiten auf den Wellen des Zeitgeists verhindert Kontinuität und Stabilität in Wirtschaft und Gesellschaft.