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Soziale gerechtigkeit

„Mehr als zehn Jahre lang habe ich mich intensiv damit befasst, den Sinn des Begriffes ‚soziale Gerechtigkeit’ herauszufinden. Der Versuch ist gescheitert.“

– Wirtschaftsnobelpreisträger Friedrich August von Hayek

Die Marktwirtschaft ist praktisch unschlagbar auf dem Gebiet der Effizienz. Sie hat aber Defizite im Bereich Gerechtigkeit und Ungleichheit. Diese Gerechtigkeitsdefizite sind in den vergangenen Jahren noch deutlicher zutage getreten, weil die Globalisierung und die Digitalisierung insbesondere die Spitzeneinkommen und -vermögen kräftig nach oben getrieben haben. Globalisierung und Digitalisierung haben für viel zusätzlichen Wohlstand gesorgt, doch diese Wohlstandsgewinne sind sehr ungleich verteilt. In den USA haben in den letzten fünf Dekaden hauptsächlich die obersten 20 % der Einkommenspyramide profitiert, während die untersten 20 % praktisch keine realen Einkommenszuwächse verzeichnen konnten.

In weiten Teilen ist die Marktwirtschaft leistungsgerecht. Fleiß, Ideenreichtum und besondere Fähigkeiten werden vom Markt honoriert. Je knapper die Fähigkeiten eines Arbeitnehmers sind, desto höher wird die Bezahlung sein. Dennoch ist die Einkommensverteilung nicht in jedem Fall leistungsgerecht. So honorieren Märkte auch den Faktor Glück – also einen Umstand, für den der jeweilige Profiteur selbst nichts geleistet hat. Ein einfaches Beispiel sind Profisportler, deren Sport medial vermarktet wird. Ohne Übertragungen im Fernsehen, Internet etc. wäre etwa das Erlöspotential für Profifußballer begrenzt durch die Einnahmen, die sich mit den Zuschauern im Stadion erzielen lassen. Werden die Fußballspiele hingegen weltweit im Fernsehen oder Internet übertragen, lassen sich viele Millionen zusätzliche Zuschauer erreichen und somit lassen sich auch die Erlöse vervielfachen, die dann wiederum die Spielergehälter in die Höhe treiben. Der Fußballer kann also ein deutlich höheres Einkommen erzielen, ohne dass er sich dafür mehr anstrengen muss. An seiner Arbeitsbelastung ändert sich nichts, wenn er vor 50 Millionen TV-Zuschauern spielt statt vor 50.000 Stadionbesuchern.

Quelle: United States Census Bureau

Hier wirken sogenannte mediale Hebel, die das Einkommen von Sportlern, Schauspielern oder Künstlern ohne zusätzliche Anstrengung oder zusätzlichen Arbeitseinsatz zuweilen explodieren lassen. Gleichwohl bedeuten hohe Markteinkommen nicht, dass die Hocheinkommensbezieher jemand anderem etwas wegnehmen. Im Gegenteil: Hohe Einkommen sind die Belohnung dafür, dass für Andere großer Nutzen erzeugt wurde.

Auf der anderen Seite gibt es viele Arbeitnehmer, deren Gehalt den wahren Wert ihrer Arbeit nicht widerspiegelt. Oft liegt es daran, dass die Gehälter nicht marktgerecht sind, weil sie politisch ausgehandelt werden. Besonders negativ macht sich das beim Pflegepersonal bemerkbar. Die Einkommen im Pflegebereich sind grundsätzlich nach oben hin begrenzt, weil medizinische und Pflegedienstleistungen für alle bezahlbar bleiben sollen. Die Kosten in diesem Bereich werden auch dadurch im Rahmen gehalten, dass die Gehälter der Beschäftigten gedeckelt werden. Die Corona-Pandemie hat dies noch einmal offengelegt: Würden im Gesundheits- und Pflegesektor Gehälter gezahlt, die die aktuelle Knappheit berücksichtigen, dann hätten sie 2020/21 nach oben schießen müssen – denn die Arbeit ist wegen der Pandemie nicht nur strapaziöser geworden, sondern das Personal auch nochmals knapper.

Diese wenigen Beispiele zeigen, dass die Frage der Verteilungsgerechtigkeit komplex ist und dass auch zurecht kontrovers darüber diskutiert wird. Das Eingangs-Zitat von Friedrich August von Hayek ist sicher zugespitzt, doch es bringt auf den Punkt, dass Fragen der sozialen Gerechtigkeit wohl niemals abschließend und einvernehmlich geklärt werden können. Vieles hängt vom persönlichen Blickwinkel und den eigenen, individuellen Erfahrungen ab. Sicher ist nur, dass der gesellschaftliche Wert der Arbeit nur unzureichend in den Gehältern zum Ausdruck kommt und dass eine „Bedarfsgerechtigkeit“ vom Markt allein nicht erreicht wird: Nicht jeder Bürger ist in der Lage, ein Einkommen zu erwirtschaften, das ausreicht, um den eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten.

Deshalb gibt es einen Grundkonsens über die Berechtigung des Sozialstaats: Es geht nicht um das „Ob“, sondern lediglich um das „Wieviel“. Teilhabe am marktwirtschaftlichen Prozess setzt ein Mindestmaß an Leistungsfähigkeit voraus. Kranke, Alte und Invalide verfügen meist nicht über die notwendige Leistungsfähigkeit. Ihnen muss geholfen werden. Ein gut funktionierender Sozialstaat leistet also denen Hilfe, die sich nicht selbst helfen können. Diese Form der Solidarität wird von keiner relevanten gesellschaftlichen Gruppe infrage gestellt.

Zudem wird in der Debatte um das richtige Maß der sozialen Sicherung ein wichtiger Aspekt selten berücksichtigt: Ein soziales Netz, das eine Mindestsicherung garantiert, erhöht die Bereitschaft, unternehmerische Risiken einzugehen. Wenn das unternehmerische Scheitern nicht den finanziellen Sturz ins Bodenlose bedeutet, steigt die wirtschaftliche Dynamik. Daran wird deutlich: Der Sozialstaat verändert das Verhalten seiner Bürger. Wenn er lediglich eine Grundsicherung anbietet, stellt sich durch die erhöhte Risikobereitschaft mehr wirtschaftliche Dynamik ein. Ein umfassender Versorgungsstaat erhöht hingegen das Risiko, dass die Bürger versuchen, ihren Lebensunterhalt statt durch eigene Leistung mit staatlichen Mitteln – also auf Kosten der Allgemeinheit – zu bestreiten.

Daraus folgt: Ein intelligent konzipierter Sozialstaat ist im Standortwettbewerb kein Belastungs-, sondern ein Produktivfaktor. Letztlich gilt es, das richtige Maß zwischen Solidarität und Eigenverantwortung zu finden.