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Messen wir den Wohlstand richtig?

Immer wieder wird kontrovers darüber diskutiert, wie sich der Wohlstand eines Landes richtig messen lässt. Dabei gerät regelmäßig die wichtigste volkswirtschaftliche Kennzahl in die Kritik: das Bruttoinlandsprodukt (BIP). Es erfasst die Summe aller produzierten Waren und Dienstleistungen innerhalb eines Jahres und bildet somit die Wirtschaftsleistung eines Landes ab. Das BIP kommt immer dann zum Einsatz, wenn über die wirtschaftliche Dynamik oder den Wohlstand eines Landes berichtet wird. Wohlstand und BIP werden dabei unterschwellig oft gleichgesetzt. Kritiker sagen aber, wahrer Wohlstand sei mehr als nur materieller Wohlstand.

Die Kritik ist durchaus berechtigt. Generationen von Ökonomen haben sich schon mit der Aussagefähigkeit des BIP beschäftigt und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass es tatsächlich gute Gründe gibt, die Höhe des Bruttoinlandsproduktes nicht einfach als treffsicheren Indikator für das Wohlbefinden der Menschen zu verwenden. Zunächst einmal gibt es konzeptionelle Ungenauigkeiten und Probleme: So misst das BIP auch Dinge als Wohlstandssteigerung, die tatsächlich nur Wohlstandseinbußen ausgleichen. Nach Naturkatastrophen (verheerende Stürme, Fluten, Erdbeben) führen die Wiederaufbauarbeiten zu einem höheren BIP und wirken dadurch wie ein Wohlstandszuwachs, obwohl eigentlich nur beschädigte oder verloren gegangene Werte – etwa zerstörte Häuser – wieder hergestellt wurden.

Neben solchen konzeptionellen Problemen ist es aber vor allem die Erkenntnis, dass das Lebensglück neben den materiellen Faktoren auch von anderen Dingen wie beispielsweise Sicherheit, Gesundheit oder einer intakten Umwelt abhängt. Das gilt vor allem in wohlhabenden Gesellschaften, denn wer finanziell ausgesorgt hat, strebt oft verstärkt nach Zielen, die man mit Geld kaum kaufen kann. In armen Gesellschaften hingegen, in denen die Menschen oft noch darum kämpfen, die elementarsten Grundbedürfnisse zu decken, hat materieller Fortschritt einen viel höheren Stellenwert. Und dieser Fortschritt wird am besten durch eine Kennzahl wie das Bruttoinlandsprodukt abgebildet.

Für die wohlhabenden Länder, denen die nicht-materiellen Werte zunehmend wichtig werden, sind schon eine ganze Reihe ergänzender Wohlstandsindikatoren vorhanden. Regierungen und internationale Organisationen versuchen, die Lebensqualität mit weiteren, oft sozialen Indikatoren zu erfassen. Die OECD hat den „Better Life Index“ entwickelt, um das gesellschaftliche Wohlergehen anhand von elf Themenfeldern – u.a. Bildung, Sicherheit und Work-Life-Balance – zu ermitteln und international zu vergleichen. Damit versucht die OECD den Blick zu weiten und von den rein wirtschaftsbezogenen BIP-Daten wegzukommen.

In Deutschland hat die Bundesregierung im Jahr 2013 beschlossen, einen Dialog mit den Bürgern über deren Verständnis von Lebensqualität zu führen. Daraus entstanden der Bürgerdialog „Gut leben in Deutschland“ und der „Bericht der Bundesregierung zur Lebensqualität in Deutschland“. Zuvor hatte der Deutsche Bundestag bereits im Jahr 2010 beschlossen, die Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft“ einzusetzen. Die Kommission hat zehn Einzelindikatoren aus den drei Bereichen „Materieller Wohlstand“, „Soziales/Teilhabe“ sowie „Ökologie“ vorgeschlagen. In eine ähnliche Richtung zielt die „Beyond GDP“-Initiative der Europäischen Kommission.

Es gibt also eine Reihe von Kennzahlen, mit denen Wohlstand und gesellschaftlicher Fortschritt abgebildet werden können. Das Bruttoinlandsprodukt ist nur eine, wenngleich wohl die wichtigste Kennzahl. Es gibt offenkundig den Wunsch, all diese Indikatoren zu einer einzigen Kennzahl zu verdichten, um an ihr direkt ablesen zu können, wie es um das Wohlbefinden eines Landes steht. Doch das wird kaum gelingen – und es sollte auch nicht gelingen. Weiche Indikatoren, mit denen versucht wird, Gefühle und Empfindungen der Bevölkerung zu quantifizieren und messbar zu machen, sind anfällig für Manipulation. Fehler in der Wirtschaftspolitik (mit messbar negativen Folgen) können übertüncht werden durch die Beimischung von Wohlfühlfaktoren. So lassen sich politisch erwünschte Ergebnisse herbeiführen.

Dass Wohlfühlfaktoren zu seltsamen Ergebnissen führen können, zeigt beispielsweise der „World Happiness Report”. Im Jahr 2020, also im Jahr der Corona-Pandemie, hat Deutschland seine Werte gegenüber den Vorjahren verbessert. Und das nicht nur im Vergleich zu anderen Ländern, denn das wäre ja noch dadurch erklärbar, dass die Deutschen mit dem Pandemie-Management ihrer Regierung zufriedener sind als die Bürger anderer Länder. Sogar in absoluten Werten steht Deutschland im „Ranking of happiness“ besser da als im Durchschnitt der drei Jahre zuvor (2017-2019). Im Klartext: Im Jahr der Corona-Pandemie fühlten sich die Deutschen angeblich besser als in den Jahren, in denen sie alle Freiheiten hatten. Es ist mehr als erklärungsbedürftig, wenn sich das Wohlbefinden verbessert in einem Jahr, in dem die Wirtschaftsleistung um rund 5 % eingebrochen ist, Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit in die Höhe schossen, Menschen um ihre berufliche Existenz bangten oder sie gar verloren, das private Leben von Lockdowns, „Stay at home“-Appellen und anderen drastischen Einschnitten bestimmt war und die Menschen obendrein in ständiger Angst vor dem Virus lebten. Viel spricht dafür, dass die Erhebungsmethodik mangelhaft ist und die Ergebnisse somit irreführend sind.

Deshalb ist es wichtig, dass das BIP als harter, messbarer wirtschaftlicher Indikator bestehen bleibt und nicht mit Wohlfühlindikatoren vermengt und die Aussagekraft verwässert wird. Mit den weicheren Indikatoren kann die Politik zusätzliche Erkenntnisse darüber gewinnen, was den Bürgern neben den wirtschaftlichen Belangen noch wichtig ist. Wenn es aber etwa um die Frage geht, wie tragfähig die öffentliche Verschuldung eines Landes ist, muss auch in Zukunft auf einen harten Indikator wie das BIP geschaut werden. Denn ob ein Land in der Lage ist, seine Schulden zurückzuzahlen, hängt maßgeblich von dessen Wirtschaftskraft, also von der Höhe des BIP ab. Wohlfühlindikatoren wären hier das falsche Maß. Schulden können nur aus den erwirtschafteten Einnahmen eines Staates zurückgezahlt werden. Und die Gläubiger eines Landes werden die Rückzahlung der gewährten Kredite in harter Währung fordern. Der Hinweis auf saubere Luft oder glückliche Menschen in dem verschuldeten Land wird die Gläubiger kaum zum Schuldenerlass bewegen.