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FREIHEIT

Die Corona-Pandemie hat mit voller Wucht die Diskussion über alte Fragen zurückgebracht: Wie steht es um die Freiheit des Einzelnen? Wo muss die individuelle Freiheit hinter die Interessen der Gemeinschaft zurücktreten? Die Pandemie hat der Diskussion einige bemerkenswerte, neue Facetten hinzugefügt. Bisher galt nach Immanuel Kant: Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt. Für den Alltag war dies stets eine gute Leitlinie. Sie hat dem Einzelnen – unter Rücksichtnahme auf seine Mitmenschen – große Freiheiten ermöglicht.

Das Corona-Virus und dessen Übertragungswege haben den Handlungsspielraum allerdings massiv eingeengt. Schon zufällige Alltagssituationen konnten zur gesundheitlichen, gegebenenfalls tödlichen Gefahr für jedermann werden. Das hohe Maß an Ungewissheit über Übertragungswege und potentielle Gesundheitsrisiken hat die Regierungen in vielen Ländern veranlasst, das Alltagsleben zeitweilig nahezu vollständig herunterzufahren. Die Freiheitsrechte der Bürger waren in nicht für möglich gehaltenem Umfang eingeschränkt.

Mit dem Ende der Pandemie wird die Debatte über die Freiheitsrechte des Einzelnen nicht beendet sein. Erfreulicherweise wird sie dann wohl weniger emotional geführt werden. Argumente lassen sich besser austauschen, wenn nicht sofort der Vorwurf im Raum steht, dieses oder jenes Argument sei gleichbedeutend mit der Inkaufnahme des Todes Unschuldiger. Die Debatte wird viel stärker als bisher das Prinzip der Risikoabwägung beinhalten müssen sowie die Frage danach, was das Leben eigentlich lebenswert macht.

Die Freiheitsdebatte wird absehbar auch durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutzgesetz befeuert. Das Verfassungsgericht weist in seinem Beschluss auf intertemporale Freiheitskonflikte hin. Die Freiheitsrechte von heute könnten eingeschränkt werden, um die Freiheitsrechte von morgen zu sichern. Mit Blick auf das zur Verfügung stehende „CO2-Budget“, das zwischen den Generationen aufzuteilen sei, heißt es: „Künftig können selbst gravierende Freiheitseinbußen zum Schutz des Klimas verhältnismäßig und verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein.“

Bei beiden Themen schlägt die Stunde der Philosophen. Sie – wie auch Vertreter anderer akademischer Fachrichtungen – werden wichtige Hilfestellungen geben müssen, um die neuen Gemengelagen in praktische Politik umzusetzen. Aufgabe der Politik ist es, Lösungen mit möglichst geringen Freiheitseinbußen zu finden. Absehbar ist schon jetzt, dass sich gesellschaftliche Spannungen und Konflikte kaum vermeiden lassen werden. Bisher war Politik vor allem dann erfolgreich, wenn sie die Menschen nimmt, wie sie tatsächlich sind – und nicht wie sie sein sollten. Künftig wird es sehr wahrscheinlich vermehrt politische Entscheidungen geben, die dem Naturell der Menschen widersprechen. Die Freiheitsliebe der Menschen und die Präferenz, Dinge lieber heute als morgen zu konsumieren, werden voraussichtlich unter spürbaren Druck kommen. Der Versuch, erwachsene Menschen „umzuerziehen“, wird kaum spannungsfrei verlaufen.

Generell ist die soziale Marktwirtschaft das wirtschaftliche Gegenstück zur politischen und persönlichen Freiheit. Die Bürger können frei – also ohne staatliche Bevormundung – darüber entscheiden, was sie produzieren und was sie konsumieren möchten. Der Tausch ist für beide Seiten – also für Anbieter und Nachfrager – vorteilhaft, andernfalls würde er nicht zustande kommen. Ob diese harmonische, freiheitliche, marktwirtschaftliche Welt weiterhin funktioniert, ist fraglich. Denn die Empfindlichkeit, mit der einige Menschen auf das Handeln Dritter reagieren, ist in den letzten Jahren drastisch gestiegen. Mit Verweis auf höhere Ziele wie die Eindämmung der Corona-Pandemie oder die Klimakrise lassen sich Einschränkungen und Verbote moralisch schnell einfordern. Ob die Politik diesem Zeitgeist der Vorschriften und Verbote widerstehen kann und einen Weg aus der neuen Gemengelage findet, der den Bürgern ihre gewohnten Freiheiten lässt, muss sich erst noch zeigen.